90 Prozent Automatisierung, 10 Prozent Mensch

Lesezeit ca. 3 Minuten
Text: Juliane Gringer
Fotos: BPW

Autonomes Fahren gilt als ein Erfolgsrezept gegen Fahrermangel, für Klimaschutz und Effizienz. Auf dem Wiehler Forum von BPW Bergische Achsen KG stellte Hendrik Kramer von Fernride vor, wie sein Unternehmen zeitnah elektrische Lkw autonom auf die Straße bringen will.

Welches Ziel setzt sich Fernride?
Wir möchten gemeinsam mit starken Partnern Lösungen anbieten, welche die Transformation von ‚Diesel und manuell‘ zu ‚elektrischem und autonomem Fahren‘ schaffen. Auch wenn es Fernride erst seit vier Jahren gibt, sind wir gar nicht so weit weg davon.
Autonomes Fahren wird seit langem diskutiert – aber wie realistisch ist es derzeit, es zeitnah auf die Straße zu bringen?
Es gibt noch regulatorische Hürden zu meistern, aber realistisch ist, dass wir in den kommenden Jahren den nächsten Schritt gehen und Mischverkehr in komplexen Umgebungen einsetzen – mobile Roboter, die quasi denken wie ein Mensch. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht da losrennen, wo vielleicht mal vor fünf bis zehn Jahren der Hype ums autonome Fahren angefangen hat, als man von „Robo-Taxis“ träumte und „Hub zu Hub“-Verkehre konzipierte, die sehr komplexe technische Probleme mit sich bringen. Diese Probleme werden in den nächsten 20, 30 Jahren auch sicher gelöst, aber wir bei Fernride haben uns gefragt, wie wir heute starten und Mehrwert generieren können.
Wie gehen Sie es an?
Als wir Fernride 2019 gegründet haben, hatten wir zehn Jahre Forschungserfahrung im Bereich des automatisierten Fahrens an der TU München im Rücken. Dort haben wir vorrangig das teleoperierte Fahren untersucht und das hat unsere Produktvision und Technologie stark inspiriert. Wir sind überzeugt, dass gar nicht hundertprozentig autonom gefahren werden muss, sondern wir nutzen so viel Autonomie, wie jetzt bereits funktioniert. Es gibt bestimmte Lücken, sogenannte Edge Cases, die beispielsweise Sicherheit betreffen – die bringen sehr viel Komplexität hinein. Und genau die überlassen wir nicht der Technik, sondern geben sie in Verantwortung von Menschen. Der Fahrer oder die Fahrerin steuern die Fahrzeuge aber aus der Ferne: Aus der Leitstelle, die ein einfaches Büro sein kann, in dem sie auf eine Konsole zugreifen. Von dort aus können sie sogar gleich mehrere Lkw bewegen. Heute sind das vier, für die Zukunft denken wir an bis zu 50 und mehr. Die Lkw sind dann wie mobile Roboter, mit denen man Arbeitsabläufe von Logistikunternehmen automatisieren kann.

Zur Person

Hendrik Kramer, 28 Jahre alt, ist Gründer und CEO von Fernride. Er hat einen Bachelor in Ingenieurwissenschaften der Universität Bremen und ein Masterstudium in Management und Technology an der TU München belegt. Mit seinem Start-up will er Elektro-Lkw autonom fahren lassen. An den Standorten München und Wolfsburg hat Fernride insgesamt rund 130 Mitarbeitende. Mit seinem Konzept konnte das Unternehmen bereits 60 Millionen Dollar von Investoren einsammeln.

Wie viel Autonomie wird in Zukunft möglich sein?
Sehr viel. Im Moment nutzen wir die menschliche Kraft noch stärker, zum Beispiel für die direkte Steuerung an einer Baustelle, die gerade neu aufgebaut wurde. Die kann der Algorithmus nicht auf Anhieb umfahren. Aber wenn er das 1.000 mal gesehen hat, lernt er von den Daten. Und somit kann das Level an Autonomie stetig erhöht werden, immer mehr in Richtung 90 Prozent.
Und die fehlenden 10 Prozent?
Sollte aus unserer Sicht gar nicht automatisiert werden. Wir wollen vielmehr Mensch und Maschine Hand in Hand arbeiten lassen. Denn das nimmt Komplexität und damit auch Entwicklungszeit. Bei jedem Arbeitsablauf bedarf es anderer menschlicher Fähigkeiten, wir nennen es Sekundärtätigkeiten: Von A nach B zu fahren ist die Basis. Aber das Fahrpersonal übernimmt ja auch das An- und Abkoppeln, Öffnen und Schließen der Türen oder die Ladungssicherung. Und einige ihrer Tätigkeiten sollte man nicht automatisieren, weil das viel aufwendiger wäre, als wenn es weiterhin Menschen tun.
Werden die Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer trotzdem bald überflüssig?
Nein, vielmehr können wir dadurch attraktive Arbeitsplätze schaffen. Der Fahrermangel ist groß, es fehlt an Nachwuchs. Gleichzeitig müssen aber auch alle, die heute diesen Job ausüben, mitgenommen werden. Schließlich geht es nicht nur um Technologie, sondern auch die Frage, wie ein Kulturwandel erfolgreich gelingen kann. Zum Beispiel sollte man die Menschen nicht vor den Kopf stoßen und sagen: Morgen sind eure Arbeitsplätze weg. Stattdessen ist wichtig, dass sie wissen: Eure Arbeitsplätze werden sicherer! Und ihr kommt aus der Kabine in einen Büroraum, in dem ihr eine höherwertige Arbeit leisten und viele Fahrzeuge steuern könnt.
Sie zeigen in der Praxis schon, wie das aussieht. Wo sind Sie aktiv?
Unter anderem bei Volkswagen in Wolfsburg und in Distributionszentren von DB Schenker. Wir wollen dort im Livebetrieb Erfahrungen sammeln, um darauf basierend die nächsten Schritte zu gehen: Raus aus dem Gelände, ab auf die Straße. Aber auch auf dem abgegrenzten Gelände gibt es viele Herausforderungen: Da sind fremde Lkw, die ein- und ausfahren oder Fußgänger laufen herum. Da gibt es viele Situationen, die man aus Innenstädten kennt und die geben uns wertvolle Impulse. Wir setzen mit unseren Partnern eine Roadmap auf, die uns in den kommenden zehn Jahren zum autonomen elektrischen Lkw-Fahren bringen soll.
Einer dieser Partner ist HHLA Next, ein Start-up, das als Innovations- und „Venture Building und Investment“-Einheit der Hamburger Hafen und Logistik Aktiengesellschaft (HHLA) fungiert. Was genau setzen Sie zusammen um?
In Tallinn, Estland, betreibt die HHLA International ein Terminal, auf dem fahrerlose Trucks bereits heute täglich im Live-Betrieb Container bewegen. Am Hafen wird heavy duty abgewickelt – große Massen von 20 bis 45 Tonnen. Es ist ein entsprechend risikoreicher Arbeitsplatz, die Abläufe sind aber prädestiniert für autonomes Fahren. Das Projekt in Tallinn ist kein Labor mehr, sondern da werden mit unseren Fahrzeugen live echte Service Level Agreements bedient.
Wie soll es weitergehen?
Der nächste Schritt für uns als Industrie ist nachzuweisen, dass es sich nicht mehr um ein Forschungsprojekt handelt, sondern die autonomen Fahrzeuge im Live-Betrieb funktionieren – nicht nur bei einem, sondern bei mehreren Kunden. Und es dann auch gemeinsam für die ersten Anwendungsfälle zu skalieren. Schließlich gilt: Wir sind in der Logistik, das muss Mehrwert bringen. Es ist nicht nur cool, im Robo-Taxi mitzufahren, sondern wir wollen Geld sparen und wirtschaftliche Vorteile sowie qualitative Vorteile wie Nachhaltigkeit und Sicherheit realisieren. Dabei wollen wir möglichst wenig an der vorhandenen Infrastruktur ändern und in die logistischen Prozesse eingreifen.
Was muss noch passieren, damit autonomes Fahren sich durchsetzen kann?
Was uns auf keinen Fall im Weg steht, ist der politische Wille oder dass die Kunden nicht wollen. Wir müssen vielmehr die Technologie ganz präzise gestalten und eine Technologie entwickeln, die sicher genug ist. Dazu müssen wir die Szenarien, die in der Realität auftreten, genauestens analysieren und sie in einzelne technische Systeme herunterbrechen. Jede noch so kleine Komponente muss möglichst ausfallsicher designt sein und indem wir diese Komponenten mehrfach integrieren, wird die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls noch mal weiter minimiert. Dazu braucht es nicht nur Software, sondern auch Hardware: Damit ein 60 km/h schneller, voll beladener Lkw bei Schnee innerhalb von acht Metern zum Stehen kommt, braucht es starke Bremsen. Wir brauchen also auch bei unseren Zulieferern und Systemintegratoren Veränderungen und Produktreifungen, die heute noch nicht da sind, aber in den nächsten Jahren kommen und dann auch in Serie gehen werden. Das wird der große Enabler sein, um das auf die Straße zu bringen.
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1 Kommentar

  1. 40 t- Zug bei 60 km/h steht auf schneebedeckter Fahrbahn nach acht Metern. Da muss ich auf meinem Bremsen-Lehrgängen etwas verpasst haben.

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