So genau ist Predictive Maintenance

Lesezeit ca. 3 Minuten
Text: Juliane Gringer
Fotos: BPW, Fraunhofer ITWM

Wie exakt kann Predictive Maintenance voraussagen, wann ein Fahrzeug in die Werkstatt muss? Benjamin Adrian, stellvertretender Leiter der Abteilung Systemanalyse, Prognose und Regelung des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM in Kaiserslautern, forscht zu diesem Thema. Im Interview erklärt er, wie exakt der optimale Zeitpunkt für vorausschauende Wartung berechnet werden kann und soll.

Herr Adrian, Sie unterstützen Industriekunden im Bereich Produktion und Instandhaltung dabei, maschinelle Anlagen zu überwachen – was genau können Sie als Mathematiker mit Ihrem Team dazu beitragen?
Wir wollen ermöglichen, den Zustand der Maschinen zu berechnen. Es geht darum, datenbasiert Vorhersagen darüber treffen zu können, wann Verschleiß passiert und gegebenenfalls Teile ausgetauscht werden müssen. Das ersetzt Prognosemodelle aus der reinen Physik der Anlage heraus: Wenn ich nur einbeziehe, dass ein Metall eine bestimmte Lebensdauer hat, aber weitere Faktoren wie Nutzungswechsel oder Wetter nicht berücksichtige, erreiche ich weniger zuverlässige Ergebnisse. Erfasse ich aber den jeweils aktuellen Zustand über Sensoren, sind bessere Prognosen möglich. Für deren Berechnung nutzen wir maschinelles Lernen, um die Dynamik der Systeme auf deren Daten zu verstehen.
Was braucht man, um den optimalen Zeitpunkt für eine vorausschauende Wartung, die sogenannte Predictive Maintenance, zu bestimmen?
Vor allem Erfahrung. Die wichtigste Frage ist: Wie viele Daten brauche ich? Muss ich erst ans Limit gehen und darauf warten, dass etwas kaputtgeht, bevor ich mit den Daten ein Verfahren des maschinellen Lernens trainiere? Aus akademischer Sicht könnte man sagen, das wäre perfekt, aber in der Realität kann und will man das gar nicht. Predictive Maintenance bietet die Chance, Instandhaltungsmaßnahmen nicht aus Risikobewusstsein eher kürzer zu takten, sondern daten- und evidenzbasiert auszuweiten.

»Die Überwachung in Echtzeit ist die Königsdisziplin: Durch sie erkennt man Veränderungen direkt und kann sie in die Prognosen einbeziehen.«

Benjamin Adrian, stellvertretender Leiter der Abteilung Systemanalyse, Prognose und Regelung des Fraunhofer ITWM

Zur Person

Benjamin Adrian, Jahrgang 1982, hat an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau Informatik studiert. Nach seiner Promotion am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz hat er in Spin-offs im Bereich Document Management verschiedene Produkte mitentwickelt, immer recht nah am Bereich maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz. 2018 kam er zum Fraunhofer ITWM und leitet dort jetzt als Stellvertreter die Abteilung Systemanalyse, Prognose und Regelung.

Welcher Zeitpunkt genau wird vorhergesagt?
Bei Maschinen sprechen wir vom Abnutzungsvorrat: Jede Anlage und jede Komponente hat so einen Vorrat, der sich durch Belastung und Betriebsdauer reduziert. Was wir nicht vorhersagen können, ist der konkrete Zeitpunkt, an dem ein Bauteil ausfallen wird – dazu gibt es zu viele Einflüsse. Aber wir können quasi ein Mindesthaltbarkeitsdatum nennen, ab dem sich die gewünschte Qualität nicht mehr gewährleisten lässt. Nun gibt es Kundinnen und Kunden, die dann sagen, sie probieren mal aus, das System länger zu fahren – und wenn es deutlich später kaputtgeht, meinen sie, die Prognosen hätten nicht gestimmt. Aber genau das will man ja vermeiden: Ziel von Predictive Maintenance ist immer die größtmögliche Sicherheit, dass etwas eben nicht unerwartet ausfällt oder kaputtgeht. Gleichzeitig soll die Qualität gleichbleibend hoch sein. Und: Verschleiß schluckt oft Energie, zum Beispiel durch mehr Reibung
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie derzeit in Ihrer Forschung?

Bei kleinen Komponenten wie Gleit- oder Kugellagern hat man die Physik verstanden und hat sie quasi im Griff: Auf deren technischen Datenblättern finden sich in der Regel die Schadensfrequenzen. Aber wenn einzelne Teile zu etwas Neuem zusammengesetzt werden, etwa bei einer Maschine oder einem Trailer, kommen sehr viele Einflussgrößen dazu, zum Beispiel Geschwindigkeit, Außentemperatur oder der Zustand von Ersatzteilen, die verbaut worden sind. Dieses Zusammenwirken macht jedes System individuell. Man kann das mit uns Menschen vergleichen: Wir kommen alle mit einer ähnlichen „Ausstattung“ auf die Welt, aber unser Körper kann im Laufe unseres Lebens durch viele Faktoren beeinflusst werden.

Wie kann man trotzdem zuverlässig voraussagen, wann ein Ersatzteil gebraucht wird?

Die Überwachung in Echtzeit ist hier die Königsdisziplin. Durch sie erkennt man Veränderungen direkt und kann sie in die Prognosen einbeziehen.

»Was diese künstlichen neuronalen Netze auch sehr gerne machen: Sie lernen auswendig. Das ist ähnlich wie bei Kindern in der Schule – wenn sie etwas nicht verstanden haben, lernen sie es halt auswendig.«

Benjamin Adrian, stellvertretender Leiter der Abteilung Systemanalyse, Prognose und Regelung des Fraunhofer ITWM

Welche Entwicklungsmöglichkeiten sehen Sie noch in puncto vorausschauende Wartung?

Das Thema ist auf jeden Fall geprägt von künstlicher Intelligenz. Der Fortschritt durch diese Technologien besteht ja darin, dass wir in der Lage sind, mit neuronalen Netzen funktionale und auch nicht funktionale Abhängigkeiten mit ganz vielen Einflussfaktoren zu erfassen, ohne sie als Mensch verstehen zu müssen. Die Herausforderung ist nur, dass sie sehr individuell sind. Und was diese künstlichen neuronalen Netze auch sehr gerne machen: Sie lernen auswendig. Da agieren sie ähnlich wie Kinder in der Schule – wenn sie etwas nicht verstanden haben, lernen sie es halt auswendig. Aber die Netze lernen dann nicht unbedingt die richtigen Aspekte auswendig. Wir Mathematikerinnen und Mathematiker müssen deshalb versuchen, solche KI-Modelle auf wiederkehrende Gegebenheiten zu trainieren, ohne dass sie auswendig lernen. Und man muss innerhalb der Grenzen der Recheneinheit bleiben: Es stecken immer PCs dahinter, die nur eine begrenzte Anzahl von Prozessoren, Kernen sowie einen Hauptspeicher haben. Wenn Sie jetzt immer mehr Parameter dazu nehmen müssen, klappt das natürlich nicht.

Welches Potenzial für die Technologie sehen Sie für Transport und Logistik?
Wenn Auflieger geleast werden, ist die Betriebsdauer in der Regel Teil des Leasing-Vertrages. Wenn da ein Fahrzeug kaputtgeht, zahlt die Kundin oder der Kunde entsprechend nicht. Daher ist es unter anderem betriebswirtschaftlich absolut sinnvoll, den Auflieger zu überwachen. Vor allem bei Kühltrailern ist es wichtig, Kühlkreislauf und Hydraulik im Blick zu behalten – und eine Warnung auszugeben, wenn man erkennt, dass ein Fehler mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren wird. Die Anwenderseite genießt den Vorteil eines anderen Bezahlmodells. Auf der Herstellerseite ist man in der Lage, Gewährleistungen und Qualitäten anders vergüten zu lassen, zum Beispiel über erweiterte Garantien.
Was finden Sie persönlich spannend an dem Thema?

Dass man immer einen Mehrwert erreicht. Es gibt eigentlich keinen Grund, nicht mit Predictive Maintenance anzufangen. Ich habe noch nie von einer Maschine Daten bekommen, aus denen ich keine interessanten Punkte herauslesen konnte, die Hersteller oder Betreiber so noch nicht betrachtet haben. Es ist keine Forschung im Elfenbeinturm, man muss nicht künstliche Daten simulieren, sondern wir können uns das wirklich konkret anschauen und erleben viele positive Überraschungen: Wir sehen täglich, was alles möglich ist, um die Effizienz zu erhöhen und die Kosten zu senken.

Info

BPW bahnt mit seiner neuen Fahrwerksgeneration iC Plus den Weg zum KI-gestützten Wartungsmanagement: Sensoren und intelligente Algorithmen machen das komplexe Management von Fahrzeugen und Flotten so einfach wie nie zuvor, Wirtschaftlichkeit und Effizienz werden damit optimiert. Basis dafür ist die digitale DNA des Trailers, die BPW bereits seit 2018 nutzt: Alle Komponenten im Fahrzeug sind digital erfasst und können über den gesamten Lebenszyklus hinweg begleitet werden. Der nächste Schritt folgt jetzt: Der Trailer der Zukunft denkt und managt sich selbst. Er nimmt den Zustand aller relevanten Fahrwerkskomponente wahr, sagt deren Verschleiß voraus, organisiert Wartungstermine zum optimalen Zeitpunkt und bestellt gegebenenfalls die richtigen Ersatzteile in die Werkstatt. Dazu arbeitet BPW eng mit seinem Tochterunternehmen idem telematics zusammen, dem europäischen Marktführer für systemoffene Transporttelematik. Das Fahrwerk iC Plus wurde auf der transport logistic 2023 in München vorgestellt und mit den führenden Fahrzeugherstellern Kässbohrer und Schwarzmüller erprobt. Es soll noch in diesem Jahr bestellbar sein.

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