Qualität trotz Krise: Eine türkische Erfolgsstory

Lesezeit: ca. 4 Minuten
Text: Kerstin Kloss, Juliane Gringer
Fotos: Kerstin Kloss, BPW Otomotiv

Die türkische Nutzfahrzeugindustrie kämpft mit Umsatzeinbußen – doch gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist Qualität gefragt: Mehr als 20.000 BPW Achsen und Luftfederungen wurden 2018 in einem eigenen Werk nahe Istanbul montiert, und die Produktionszahlen von BPW Otomotiv haben sich in den vergangenen fünf Jahren verdreifacht.

Wie hell es in dem Gebäude ist, fällt sofort auf: In Gebze am türkischen Marmarameer scheint die Sonne so intensiv, dass die 6.000 Quadratmeter große Montage- und Lagerhalle von BPW Otomotiv fast den ganzen Tag ohne künstliches Licht auskommt. Die Mitarbeiter können hier auch ohne Lampen jedes noch so kleine Detail bei der Arbeit am modularen Fahrwerk ECO Air und der Luftfederung Airlight II erkennen. Und auf Details kommt es bei dieser Arbeit an: Die Standards, nach denen BPW seine hochwertigen Produkte fertigt und vertreibt, sind hoch – und weltweit einheitlich.

Seit über 30 Jahren ist BPW Bergische Achsen auf dem türkischen Markt präsent. Die Tochtergesellschaft BPW Otomotiv war lange Zeit als reines Handelsunternehmen aktiv und verkaufte Achsen aus Deutschland an Fahrzeughersteller in der Türkei. Im Jahr 2005 übernahm das Land die EU-Richtlinien für Trailer und damit auch die EU-Standards: Gewichte und Abmessungen der Lkw wurden angepasst. Daraufhin wurden viele alte, überladene Fahrzeuge durch moderne Trailer ersetzt, und die Nachfrage nach BPW Fahrwerken stieg rapide an. Inzwischen sind in jedem zweiten Nutzfahrzeug in der Türkei Fahrwerke von BPW verbaut: „Unser Marktanteil liegt heute bei über 60 Prozent“, berichtet Hüseyin Akbaş, Geschäftsführer von BPW Otomotiv.

Achsmontage aus nächster Nähe

Die Produktion in Gebze startete 2012 zunächst in einer gemieteten Anlage, bevor im August 2015 die eigene Fabrik feierlich eröffnet wurde. „Wir können hier im Werk 90 Prozent aller Standard-Achsmodelle für den türkischen Markt herstellen und Abrufaufträge innerhalb von nur einer Woche liefern“, erklärt Akbaş. „An den Fertigungslinien können beide -Luftfederungen Airlight II und ECO Air in Modulbauweise produziert werden. So ergibt sich ein Durchsatz von mehr als 20.000 Fahrwerken mit Luftfederung im Jahr.“

Werksleiterin Gülsüm Çıǧın erläutert den Prozess: „Wenn der Kunde beispielsweise ein Airlight II-Fahrwerk bei uns bestellt, montieren wir zuerst die Radnaben. Als zentrales Teil wird das Kegelrollen-Lager eingebaut, das den Reibungswiderstand verringert und damit dafür sorgt, dass das Rad immer sauber läuft. “ Die Teile dafür kommen aus der Zentrale in Wiehl oder von Zulieferern. Trailerachsen und ihre Komponenten sind trotz Leichtbau „Heavy Metal“: Um fertig montierte Bauteile von der Palette auf das Montageband zu heben, nutzen die Mitarbeiter eine spezielle Hebevorrichtung. Bis zu 120 Radnaben werden am Tag montiert. Der 28-jährige Tolga Kizilkus ist wie seine Kollegen rotierend an allen Montagelinien im Einsatz. Das macht die Achsproduktion flexibler und den Job abwechslungsreicher. Alle Mitarbeiter durchlaufen ein Training on the Job und bekommen schriftliche Anleitungen: „Nach einem Monat konnte ich schon alles selbstständig machen“, berichtet er.

Mitarbeiter im Mittelpunkt

Knapp 50 Beschäftigte arbeiten bei BPW Otomotiv. Um als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben, geht das Unternehmen intensiv auf die Bedürfnisse der Angestellten ein. Jeden Freitag fährt ein Shuttlebus eine nahe gelegene Moschee an; die lange Pause, die dafür gebraucht wird, wird durch flexible Arbeitszeiten ermöglicht. Zweimal täglich finden sich auch alle Mitarbeiter zum Teetrinken zusammen – ein wichtiges Ritual zum Austausch untereinander. In der Türkei ist es außerdem üblich, dass der Transport zum Arbeitsplatz organisiert wird. Deshalb lässt BPW Otomotiv seine Mitarbeiter an verschiedenen Sammelpunkten abholen. Auch die Verpflegung stellt der Arbeitgeber kostenlos zur Verfügung.

Austausch mit den Kollegen in Deutschland

Die Werksleiterin geht hinüber zur Achsmontage. Dort wird jeweils ein Achskörper mit Radnaben-Anschluss und Scheibenbremssattel zu einer Achse verschmolzen. Dann schiebt ein Mitarbeiter das Gefüge weiter zur Luftfedermontage. Anders als am deutschen BPW Hauptsitz setzt die Produktion in Gebze noch stark auf Förderprozesse mit manuellen Trollies: „Für das Volumen, das hier produziert wird, ist das effizienter als mit autonom fahrenden Transportgestellen“, erklärt Çıǧın.

Sie steht jetzt am Ende der Montagelinie. Sobald drei Achsen auf der Palette sind, nimmt ein Gabelstapler sie in den Versandbereich nebenan mit. Sämtliche Produktionsdaten werden digital in einer speziellen Software abgelegt. „Über dieses ERP-System lässt sich zurückverfolgen, wie alle Teile montiert wurden“, erklärt Çıǧın. Nahezu täglich telefoniert sie mit dem Werk in Wiehl: „Uns ist dieser Austausch sehr wichtig. Die Kollegen dort können sich jederzeit online auf unsere Anlage zuschalten, sodass wir schnell und direkt Fragen besprechen können. Das ist sehr hilfreich.“

Geschäftsführer Akbaş demonstriert eine weitere smarte Funktion und fotografiert mit seinem Smartphone den QR-Code, der auf jeder fertigen Achse angebracht ist. Umgehend wird auf dem Display des Handys die „digitale DNA“ des Stückes sichtbar: Man kann genau einsehen, welche Teile in exakt dieser Achse verbaut wurden, und passende Ersatzteile sowie Servicedokumente abrufen. Werkstätten und Fahrzeugbetreiber haben somit innerhalb von Sekunden Zugriff auf diese Informationen.

Krisenfest durch Exporte

Die Logistik ist eine der am schnellsten wachsenden Branchen in der Türkei. Unter anderem eröffnet die neue Seidenstraße Wachstumsmöglichkeiten, und die Region fungiert schon jetzt als eine Art Hub in den Osten. Wenn dortige politische Konflikte in Zukunft befriedet werden sollten, könnte noch viel mehr Verkehr durch die Türkei laufen. Derzeit ist die Wirtschaft aber geschwächt: Laut des Automobilherstellerverbandes (Otomotiv Sanayii Dernegi, OSD) ist der Nutzfahrzeugmarkt in den ersten zehn Monaten 2019 um 42 Prozent gesunken. „In den vergangenen zwei Jahren hatten es unsere Kunden deshalb nicht leicht“, erklärt Hüseyin Akbaş. Viele von ihnen setzten jedoch verstärkt auf Exporte, und davon konnte BPW Otomotiv profitieren. Denn im Exportgeschäft sind insbesondere Produkte von hoher Qualität gefragt. „Wir trotzen der Krise in der Türkei vor allem dank der weltweiten Strategie von BPW, indem wir sowohl mit Fahrzeugherstellern als auch mit Fahrzeugbetreibern zusammenzuarbeiten“, ergänzt Akbaş. Er glaubt, dass sich schon eine Besserung abzeichnet. „Aber 2020 wird sicher noch mal ein schwieriges Jahr.“

Produktion stark ausbauen

Er selbst investiert in den Ausbau seines Geschäfts: Seit 2018 werden in Gebze auch Produkte des BPW Tochterunternehmens Hestal produziert. Hestal steht für hochwertige Verschließ- und Aufbautentechnik und bietet neben Rungen, Verschlüssen und Scharnieren montagefreundliche Aufbaukits für Curtainsider- und Pritschenfahrzeuge sowie Sicherheitstüren und Ladungssicherungssysteme an. Hüseyin Akbaş will die Produktion weiter ausbauen und bald nur für diese Komponenten 20 Prozent mehr Regale in der Halle installieren und Raum für die Montagearbeit schaffen. Er ist fest entschlossen, „jeden Millimeter“ für die Expansion zu nutzen.
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4 Kommentare

  1. Die Zahlen für den Trailerbau findet man unter https://www.treder.org.tr , dort istatistikler wählen und dann links die Zeile mit kumulativ. Für 2019 gibt es noch keine Jahresstatistik. Aber für
    2017 insgesamt 16000, Tirsan 8546, Krone 1992
    2018 insgesamt 15635, Tirsan 8546, Krone 2758.
    So schlimm schein es im Trailerbau nicht auszusehen, Krone meldet für 2472 für 2019.

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    • Tirsan 2018 9530.Daten für 2019 fehlen immer noch.

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  2. Schöner Artikel, beschreibt die Lage in Gebze meiner Meinung nach sehr gut.

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    • Hi Bernd, danke für dein Feedback! LG, das motionist.com-Redaktionsteam

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