„Mobilität ist eine Design-Aufgabe“

Lesezeit ca. 6 Minuten
Text: Oliver Schönfeld
Fotos: Fischer-Appelt, Shutterstock, Cities for Future; Kurs Fahrradstadt

Welcher Mobilitätsmix wird in Zukunft die Städte prägen, wie kann eine menschenfreundliche Verkehrswende gelingen? Claudia Fischer-Appelt, Designerin und Kommunikationsexpertin, beschäftigt sich seit Jahren mit der Transformation der Mobilität. Im Interview entwirft sie Perspektiven und Ideen für einen nachhaltigeren Warenverkehr.

Frau Fischer-Appelt, Sie sind eine gefragte Expertin für Mobilitätsthemen. Wie können aus Ihrer Sicht Lösungen für die urbane Logistik der Zukunft aussehen: Reicht es, den Antrieb zu elektrifizieren – oder brauchen wir weitergehende Lösungen?

Mobilität ist nicht nur eine Frage des Antriebs, mit dem Menschen und Dinge von A nach B kommen. Mobilität bewegt uns alle, jeden Tag. Deswegen berührt sie auch alle Lebensbereiche: unsere Gewohnheiten, den Konsum, die Stadtplanung und wie wir wohnen. Es reicht es nicht zu sagen: jetzt nur noch elektrisch und alles wird gut! Elektrifizierung kann nur ein Teil in einem großen Puzzle sein, das es für jede Stadt individuell zusammenzusetzen gilt. Lastenräder entlasten zum Beispiel nicht nur Städte. Im Projekt „Kiezkaufhaus“ wird in Wiesbaden das Lastenrad zum kollektiven Wettbewerbsvorteil ausgenutzt: Menschen können direkt bei lokalen Wiesbadener Händlern einkaufen und sich die Waren emissionsfrei per Fahrradkurier nach Hause liefern lassen – und das meist sogar noch am selben Tag. Dieses Modell könnte in anderen Städten auch Schule machen. Oder mehr intermodale Logistikketten im urbanen Raum: Warum nicht ein Cargo-Tram-Szenario, statt das Paket mit dem alten Dieselkombi nach Hause auszuliefern? Kombiniert mit einem Mikro-Depot, und weiter geht es mit dem ganztägig verfügbaren Fahrradkurier? Ich denke: Insgesamt brauchen wir mehr kollaborative Ansätze zwischen Unternehmen, Behörden und öffentlichen Verkehrsmittelbetreibern. Mobilität geht alle etwas an, sie ist eine große Design-Aufgabe. Sie braucht mehr Fantasie, auch bei der Gestaltung der Zusammenarbeit. Alle müssen sich von ihrer bisherigen Position aus bewegen, das gehört auch zur Mobilität von morgen.

»Menschen wollen, dass Städte in Zukunft mehr auf die Bedürfnisse von Personen eingehen, statt alles auf den Autoverkehr auszurichten.«

Claudia Fischer-Appelt, Gründerin und Geschäftsführerin von Karl Anders

Die Citylogistik stößt heute auf wachsende Widerstände. Könnten emissionsärmere Technologien unter dem Strich auch die Akzeptanz wieder steigern?
Wer jemals in der Nähe eines laufenden Kühltransporters schlafen musste, weiß, dass das kein Spaß ist. Natürlich entlastet emissionsarme Logistik unsere Städte, was Lärm, Luft- und Umweltverschmutzung angeht. Sie ist allerdings kein Allheilmittel für die Attraktivität eines Standorts. Menschen wollen, dass Städte in Zukunft mehr auf die Bedürfnisse von Personen eingehen, statt alles auf den Autoverkehr auszurichten. Also mehr Lebensraum, weniger Auto, mehr Naherholung und weniger Fernverkehr in der eigenen Straße. Barcelona hat gute Erfahrungen mit sogenannten Superinseln gemacht, auf Spanisch heißen sie „Superilles“: verkehrsarme Quartiere mit Vorrang für Radfahrerinnen und Radfahrer sowie alle, die zu Fuß unterwegs sind. Der Verkehr wird um die Quartiere geleitet, Kreuzungen werden zu Plätzen, das Leben kommt zurück auf die Straße – und die ansässigen Läden profitieren davon. Das Prinzip soll nun auch in Hamburg als „Superbüttel“ umgesetzt werden – benannt nach dem Stadtteil Eimsbüttel. Damit solch ein neuer Stadtraum überhaupt logistisch funktioniert, müssen Standorte für Mikro-Hubs gefunden und die Fahrradflotte erheblich ausgebaut werden. Fest steht also: Innovative Logistik-Ideen müssen her, die dem Konzept solcher „Superblocks“ nicht entgegenstehen.
Die Branche sucht händeringend nach Konzepten für die Last-Mile-Logistik. Ist es der hohe Kostendruck, an dem neue Ideen scheitern, oder brauchen wir einfach Pionierinnen und Pioniere, die sich etwas trauen?
Stimmt: Die Logistikbranche steht extrem unter Druck. Visionäres Denken fällt schwer bei wachsenden Volumina und hohen Erwartungen der Kundschaft an Geschwindigkeit sowie Flexibilität, die im Widerspruch zu dem enormen Kostendruck und der Arbeitsbelastung stehen. Dennoch brauchen wir mehr disruptive Ansätze. In den 1950er-Jahren hat es schon mal geklappt: Der US-amerikanische Transportunternehmer Malcom McLean erfand damals den Container, der den schnellen Umschlag von Schiene und Schiff ermöglichte. Laut der FH Frankfurt konnte dieses Konzept die Transportkosten um 22 Prozent senken. Warum kann man also heute nicht auch einen standardisierten Container für die letzte Meile gestalten? Den „Letzti“ oder die „Endmeilenbox“ oder wie auch immer man es nennen mag: einen Container, der den Umschlag von Lieferwagen auf Straßenbahn zum Lastenrad variabel und schnell ermöglicht. Künstliche Intelligenz wird meines Erachtens im Lager außerorts und beim autonomen Fahren innerorts zur Geltung kommen. Das Lager der Zukunft funktioniert vollautomatisch: Optimierte Artikelpositionierung, Dock- und Yard-Management, und das Paket ist auf dem Weg zum Kunden. Spannend wird vielmehr, wie sich die Übergabe entwickeln wird. Eine Mobilitätsmarke, die gebündelt einen neuen Ort für den Paketempfang schafft, fände ich spannend. Niemand geht gerne zu einer Filiale oder zur Post oder steht lange an. Warum ist solch ein Ort eigentlich so negativ besetzt? Das könnte sich alles ändern. Fest steht: Unsere Städte werden sich von Grund auf ändern. Also sollten auch Mobilitätslösungen von Grund auf neu gedacht werden.
In Hamburg soll mit „Superbüttel“ ein verkehrsarmes Quartier entstehen, das mehr Lebensqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner ermöglicht.
Pilotprojekte zeigen, wie sich KEP-Verkehre differenzierter darstellen lassen – Lastenräder für die letzten Meter oder beispielsweise Straßenbahnen und generell der ÖPNV als Beförderer von Paketen zu dezentralen Hubs in Wohnquartieren. Welche Ideen hätten Sie darüber hinaus?
Stadtviertel werden jeglichen Verkehr immer mehr verbannen. Deshalb ist eine solche Lösung sinnvoll. Vom Depot mit der Cargo-Tram zu einer Zielhaltestelle, dann weiter per Rad zum Kunden – und das mit einem standardisierten Container. Spannend wird die Frage werden, ob eine Tram nur für den Gütertransport eingesetzt wird, ob ein Abschnitt der Tram umgebaut wird oder ob man einen Anhänger einsetzt. Wird es vielleicht eines Tages möglich sein, auf der Heimstrecke in den öffentlichen Verkehrsmitteln benachrichtigt zu werden und bereits das Paket mitzunehmen? Welche neuen Wege eröffnet eine exzellente Nachverfolgung? Warum gibt es nicht bereits ein Uber für Lastenräder?
Der boomende E-Commerce und die teils horrend hohen Rücksendequoten sorgen derzeit dafür, dass die Sendungsvolumina weiter wachsen. Steht hier nicht jede einzelne Person in der Verantwortung, bewusster zu handeln?
Die Mobilitätswende ist eine Einladung, auch mental mobil zu werden – und den eigenen Habitus zu ändern. Deutschland ist in der Tat Retouren-Europameister: Die Rücksendequote liegt laut Handelsforschungsinstitut EHI bei bis zu 75 Prozent, bei Mode geht mehr als die Hälfte aller Lieferungen zurück. Am wirkungsvollsten ist es natürlich, Retouren zu vermeiden, da darf sich jede Person angesprochen fühlen. Kostenlose Retouren sind meines Erachtens ein Auslaufmodell, denn die Rücksendungen sind ökologisch und auch wirtschaftlich nicht mehr vertretbar. Ein anderer Trend wird auch die Mobilität bestimmen: die Rückabwicklung der Globalisierung, die zu mehr Gleichmacherei im Stadtbild geführt hat statt zur gewünschten Vielfalt vor Ort. Wenn Sie vor Ort mehr einkaufen wollen, muss nicht nur das Angebot, sondern auch der Ort attraktiver werden. Hier setzt die Idee der 15-Minuten-Stadt an, in der die gesamte Infrastruktur im Umkreis einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Rad ab der Wohnadresse zur Verfügung steht. Sie beinhaltet kürzere Wege und das Ziel, Stadtviertel lebenswerter machen. Dazu gehören mehr Wohnungen, mehr Räume, die unterschiedlich genutzt werden, mehr kulturelle Identität, zu der auch der Einzelhandel beiträgt. Ein Grundgedanke der 15-Minuten-Stadt: Wenn Sie in einem Viertel in Zukunft nicht mindestens zehn Dinge tun können, lohnt es sich kaum, dort zu leben. Wohnen, spazieren gehen, arbeiten, Kaffee trinken – auf wie viele Aktivitäten kommen wir heute?
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