Mehr Vegetarier – mehr Kühltransporte?

Lesezeit: ca. 3 Minuten
Text: Juliane Gringer
Fotos: TU Berlin, Shutterstock

Menschen ernähren sich bewusster – das hat Auswirkungen auf die Lebensmittellogistik. Julia Kleineidam, wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem von Professor Frank Straube geleiteten Fachgebiet Logistik an der Technischen Universität Berlin, berichtet im Interview, welche Herausforderungen und Perspektiven sie für die Branche sieht.

In Antwerpen, dem zweitgrößten Hafen Europas nach Rotterdam, stieg die Zahl der umgeschlagenen Kühlcontainer 2021 um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr – und zum zweiten Mal in Folge wurde die Marke von einer Million TEU an betriebsbereiten Kühlcontainern überschritten. Die Fachleute der Perishables Expertise Group erklären diese Entwicklung mit Food-Trends wie Veganismus: „Unsere Essgewohnheiten wirken sich positiv auf die Zahlen der Kühltransporte aus. Lebensmittelkisten mit frischen Produkten werden immer beliebter. Viele Menschen entscheiden sich bewusst für eine pflanzliche Ernährung und suchen nach einem größeren Angebot an Obst, Gemüse und Fleischersatzprodukten. Und das möglichst das ganze Jahr über.“

Frau Kleineidam, können Sie diese Einschätzung aus Ihrer Forschung heraus bestätigen?
Dass die Zahl der Kühltransporte insgesamt zunimmt, sehen wir auch. Genau wie die Tendenz, sich stärker pflanzlich zu ernähren – und ich denke schon, dass es eine Korrelation gibt. Ich würde aber auch andere Aspekte nicht außen vor lassen wollen. Denn wir sehen generell einen stärkeren Einsatz von Technologien und daraus resultierend eine stärkere Diversifizierung. Wenn ich zum Beispiel durch den Einsatz von bestimmten Temperaturzonen einige Lebensmittel noch besser transportieren oder länger haltbar machen kann als bisher, dann werde ich eher einen Kühltransport nutzen. Je mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, desto mehr werden auch eingesetzt.
Wie flexibel muss Lebensmittellogistik sein?

Lebensmittel bringen einfach bestimmte Voraussetzungen mit, die in puncto Flexibilität Anforderungen an die Logistik stellen. Und die braucht entsprechende Strukturen. Vor allem im operativen Bereich sehen wir sehr viel Flexibilität – nicht zuletzt, weil Technologien fortschreiten: Früher war es gang und gäbe, dass ich die Dinge, die ich zuerst ins Lagerhaus reingestellt habe, auch zuerst wieder rausnehme – „first in, first out“. Inzwischen gibt es Lösungen, die den Reifegrad von bestimmten Lebensmitteln erfassen können, und dann kann ich ihnen ein eigenes Haltbarkeitsdatum geben. Für die Logistik heißt das, dass bevorzugt die Waren entnommen werden sollten, die zuerst ablaufen werden – also „first expired, first out“. Diese Dynamik muss ich in meinen Prozess aufnehmen. Wenn sich die Anforderungen der Kundinnen und Kunden ändern, muss die Logistik eben darauf reagieren.

»Der Trend zu größerer Transparenz ist ein starker Motor für Veränderungen in den Transportketten der Lebensmittelogistik.«

Julia Kleineidam, wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Logistik der Technischen Universität Berlin

2015 sagten 85.000 Menschen in Deutschland, dass sie sich vegan ernähren. 2021 waren es schon 1,41 Millionen, dazu kommen noch mal 7,5 Millionen Vegetarier. Wie wirkt sich das aus?
Wir hören von den Unternehmen, mit denen wir über solche Themen sprechen, dass es aus der Logistikdienstleister-Perspektive ganz platt gesagt alter Wein in neuen Schläuchen ist. Auch wenn die Produkte sich verändern, stellen sie keine völlig anderen Anforderungen an den Transport. Fleischersatzprodukte müssen auch gekühlt werden. Die Mengen steigen aber durchaus. Aus der Forschung heraus beobachten wir, dass der Trend zu größerer Transparenz ein noch stärkerer Motor für Veränderungen in den Transportketten ist.
Dass die Kundinnen und Kunden eher darauf achten, wo ihre Lebensmittel herkommen, und sich mehr regionale Produkte wünschen?
Ja, genau. Das ist ein Logistikthema, weil hier die Transportketten umstrukturiert werden müssen. An der Produktion von Lebensmitteln und deren Transport und Logistik sind viele Akteurinnen und Akteure beteiligt, unter anderem Landwirtschaftsbetriebe, Speditionen und Handelsunternehmen. Sie alle müssen wissen, wo der Apfel oder die Himbeere herkommt, um diese Information in der Logistikkette weitergeben zu können. Dazu braucht man digitale Lösungen.
Gibt es noch weitere Herausforderungen, die Sie für den europäischen und den deutschen Markt sehen?
Seit zehn, fünfzehn Jahren heißt es, dass der Lebensmittel-Onlinehandel durch die Decke gehen wird. Viele andere Länder sind da schon stark unterwegs – in Deutschland passiert fast nichts. Erst seit der Corona-Pandemie ist eine Entwicklung spürbar: Nicht nur klassische Händler wie Rewe oder Edeka liefern inzwischen nach Hause; zusätzlich sprießen Last-Mile-Delivery-Dienstleister wie Gorillas oder Flink aus dem Boden. Da sehen wir einen massiven Umbruch im Markt. Ich wäre vorsichtig damit zu sagen, dass wir unsere Lebensmittel in einigen Jahren nur noch online bestellen werden. Aber nach dem, was wir sehen, und nach meinen Erfahrungen mit dem Lebensmittelmarkt denke ich, dass wir mehrere Kanäle nutzen werden, um uns zu versorgen. Das stellt neue Herausforderungen an die Logistik. Es fängt an mit der Frage, wo ich die Palette hinbringe – in den Supermarkt oder in ein Lager? Wenn es nicht die ganz direkte Zustellung innerhalb von zehn Minuten ist, sondern eine klassische Online-Bestellung, kann man das Lager auch vor den Toren der Stadt installieren und von da aus E-Autos in die City schicken. Auch das Packaging und die Strukturierung der Artikel stehen infrage: Wenn die Packung nicht mehr dazu animieren muss, dass ich im Regal danach greife, ist weniger wichtig, wie sie aussieht. Logistikdienstleister sollten sich nicht auf einen Kanal festlegen, sondern divers werden, um bei diesen Trends mithalten zu können.
Wie kann die Forschung unterstützen?

Langfristig könnte autonomes Fahren den Transport vom Lager zum Verkaufsstandort oder die Zustellung zu den Kundinnen und Kunden stark verändern. Dann lassen sich vielleicht auch viel mehr Menschen die Einkäufe nach Hause liefern. Wir untersuchen das hier in Berlin in dem großen Forschungsprojekt BeIntelli. Da sehe ich einen Zeithorizont von mindestens zehn Jahren, und es wird spannend, welche Konzepte tatsächlich in die Umsetzung kommen können.

Zur Person

Julia Kleineidam ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Logistik an der Technischen Universität Berlin tätig, das von Professor Frank Straube geleitet wird. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Lebensmittelwelthandel und arbeitet unter anderem in einem Projekt, das sich mit Lebensmittel-Logistikketten in Entwicklungsländern beschäftigt, konkret am Beispiel Äthiopien. „Wir untersuchen, wie man Lebensmittelverschwendung reduzieren und gleichzeitig positive Beschäftigungseffekte erzielen kann. Im Hintergrund steht, dass wir Wege suchen, wie ein Land wie Äthiopien, das relativ viel Potenzial hat, Lebensmittel zu produzieren, stärker am internationalen Handel teilnehmen und damit auch seine eigene Entwicklung vorantreiben kann.“
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