Text: Juliane Gringer
Fotos: GO! Express & Logistics Deutschland GmbH, Achim Bachhausen – REWE Group, Hoffotografen
Nachtlogistik kann eine echte Problemlöserin sein: Mit emissionsfreien und geräuscharmen Fahrzeugen schont sie das Klima und die Nerven der Anwohner könnte sogar den drohenden Verkehrsinfarkt in den Städten verhindern. Doch wie weit ist der Weg in die Umsetzung noch?
Würden Waren auf leisen Rädern emissionsfrei in der Nacht zugestellt, könnte das den Verkehr in den überfüllten Innenstädten deutlich entlasten: In den dunklen Stunden könnten die Lkw nahezu unbemerkt auf leeren Straßen fahren, am Tag entstünden weniger Staus und Emissionen. Eine scheinbar perfekte Lösung also – doch bisher wird Nachtlogistik selten umgesetzt. Die größten Bremsen sind die starre Gesetzgebung und die Tatsache, dass es bisher in Deutschland keine Zertifizierung für geeignete Fahrzeuge gibt. Die Entwicklung solcher Gütesiegel will nun das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) fördern – das hat es im „Innovationsprogramm Logistik 2030“ angekündigt. Das Ministerium will sich auch dafür einsetzen, dass die Länder und Kommunen innovative Modellvorhaben starten. Die Verantwortung dafür liegt laut dem Papier bei der Wirtschaft, die vom BMVI unterstützt werden soll: Ende Juni 2020 will MdB Steffen Bilger, Koordinator der Bundesregierung für Güterverkehr und Logistik, dazu mit Vertretern aus Unternehmen sowie aus wissenschaftlichen Institutionen ins Gespräch kommen.
Vorreiterprojekt in Sachen Nachtlogistik
Ein Unternehmen, das die Nachtlogistik schon erprobt hat, ist die REWE Group. Der Lebensmitteleinzelhändler hat am Forschungsprojekt „GeNaLog“ (geräuscharme Nachtlogistik) teilgenommen, das das Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML gemeinsam mit weiteren Partnern von 2014 bis 2017 durchgeführt hat. „Dieses Projekt haben wir erfolgreich abgeschlossen und damit bewiesen, dass eine Nachtlogistik machbar ist“, sagt Birgit Heitzer, Leiterin der Konzernlogistik der REWE Group. „Gleichwohl ist es ein weiter Weg in die Praxis – denn dort ist die Anlieferung in der Nacht bisher nicht umgesetzt, weil keine Rechtssicherheit gegeben ist. Hier müssen dringend grundsätzliche Regularien geschaffen werden.“ Weiterhin hält Heitzer es für unerlässlich, dass der Bund die Investion in zukünftig zertifizierte Fahrzeuge fördert.
»Unternehmen, die eine Nachtlogistik umsetzen wollen, können nicht individuell mit jeder Kommune die Einzelschritte klären, sondern es muss grundsätzliche Regularien dafür geben.«
Birgit Heitzer, Leiterin der Konzernlogistik der REWE Group
Den Innenstädten droht Verkehrskollaps
Auch Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim Handelsverband Deutschland (HDE), fordert einheitliche Richtlinien, anhand derer die Kommunen Genehmigungen ausstellen können: „Die Verantwortlichen brauchen eine klare Rechtsgrundlage.“ Und das dringend, denn der Druck auf den Straßen wächst. „Das eigentliche Problem ist der drohende Verkehrsinfarkt“, so Reink. „Wir müssen hier wirklich aktiv werden, sonst steht uns der Kollaps in unseren Innenstädten bevor. Rahmenbedingungen für die Nachtlogistik zu schaffen sollte deshalb einen viel höhere Priorität haben. Als Verband unterstützen wir eine schnellere Umsetzung des Themas in Deutschland. Wir haben mit unseren Unternehmen darüber gesprochen, ob sie darin eine Alternative sehen, und ihre Reaktion war positiv, auch wenn höhere Kosten auf sie zukommen könnten.“
Zertifizierung zwingend erforderlich
Um Nachtlogistik umzusetzen, ist es seiner Meinung nach erstens nötig, „eine ausreichende Flotte von leisen, elektrisch angetriebenen Fahrzeugen schneller aufzubauen. Unsere Händler testen die wenigen Lkw, die derzeit am Markt verfügbar sind. Wir würden uns wünschen, dass Wasserstofftechnik hier noch stärker erforscht wird.“ Und zweitens: „Die Fahrzeuge müssen zertifiziert werden – und das zuverlässig, damit die Nutzer sicher sein können, dass sie sie für Nachtfahrten einsetzen dürfen.“ In den Niederlanden gibt es so ein Zertifikat namens „Piek“: Dort hat die Regierung im Jahr 1998 Normen für die Lärmemission beim Be- und Entladen von Einzelhandels- und Handwerksbetrieben festgelegt. Daraus wuchs ein Zertifizierungssystem für Fahrzeuge und Geräte, die für den Einsatz bei nächtlichen Lieferungen geeignet sind.
Um die Norm zu erreichen, wird jedes Fahrzeug akustisch gemessen: Vor dem am stärksten betroffene Wohnraumfenster muss in der Nacht ein Wert unter 45 dB(A) eingehalten werden – das ist weniger als der Geräuschpegel eines Fernsehers in Zimmerlautstärke von 60 db (A). Einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen dürfen die Immissionsrichtwerte in der Nacht um nicht mehr als 20 dB(A) überschreiten. Dann verursacht es keine Lärmbelästigung der Anwohner und gilt als geeignet für die Lieferung außerhalb der Geschäftszeiten. „In den Niederlanden unterscheiden sich jedoch die Lärm-Grenzwerte leicht von denen in Deutschland, und der Messpunkt ist dort in der Wohnung und nicht wie hierzulande außerhalb. Daher kann man das Zertifikat nicht direkt übertragen“, bedauert Reink. „Wir bräuchten aber dieses oder ein ähnliches Zeugnis auch hier.“ Das BMVI weist darauf hin, dass Erkenntnisse aus den Niederlanden aufgrund unserer föderalen Verfassung nur sehr bedingt auf Deutschland übertragbar sind.
Einsatz von leisen Rollen
Massive Zunahme an Volumina
»Wir sehen in der Nachtlogistik eine klare Problemlöserin für den drohenden Verkehrsinfarkt.«
Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim Handelsverband Deutschland (HDE)
Fehlende Bereitschaft zur Veränderung
Die Möglichkeit einer Belieferung in anderen Zeitfenstern wünscht sich auch Ulrich Nolte, Geschäftsführer der GO! Express & Logistics (Deutschland) GmbH. Gemeinsam mit gewerblichen Empfangskunden in der Stadt müssten Zustellzeiten in den frühen Morgenstunden oder auch am späten Abend möglich gemacht werden, erklärt er: „Das würde nicht automatisch zu weniger Verkehrsaufkommen führen, aber zu einer Entzerrung des Straßenverkehrs und damit zu weniger Staus und Emissionen.“ Dabei gibt es eine große Herausforderung: „Die Empfänger müssen bereit sein, die Sendungen auch in diesen bisher ungewohnten Zeitfenstern entgegenzunehmen“, so Nolte auf dem Wiehler Forum 2019 der BPW Bergische Achsen. „Bei den gewerblichen Empfängern ist das bisher schwierig, weil so früh noch niemand vor Ort ist. Neue Konzepte sind zwar erwünscht –allerdings wäre damit auch einen Umstellung der bisherigen Gepflogenheiten in Sachen Logistik verbunden.“
»Wir könnten früher zustellen, aber die Empfänger müssten bereit sein, die Sendungen auch in diesen bisher ungewohnten Zeitfenstern entgegenzunehmen.«
Ulrich Nolte, Geschäftsführer der GO! Express & Logistics (Deutschland) GmbH
Paketannahme gemeinschaftlich organisieren
Selbstverständlich sei der Kunde nicht alleine für das Thema verantwortlich, betont Nolte. Die Kommunen müssten auch die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. „Wir sind natürlich als flächendeckende Organisation an vielen Orten mit ihnen im Gespräch und reden auch mit unseren Kunden über alternative Konzepte.“ Nolte ist überzeugt: „Es gibt nicht die eine Lösung nach dem Motto ‚One size fits all‘. Die Interessenlagen der einzelnen Städte sind auch unterschiedlich. Aber man spürt, dass Bewegung in dem Thema ist.“ Denn jeder sehe täglich, wie voll die Straßen jetzt schon sind. „Die Flächen im städtischen Bereich sind knapp. Jedes Wirtschaftsunternehmen, das knappe Ressourcen hat, fragt sich, wie es sie besser und sinnvoller auslasten kann“, fasst der Geschäftsführer zusammen. „Nachtlogistik wäre hier ein wirksames Instrument.“
Investition kann sich mehrfach auszahlen
In puncto Kosten sieht Michael Reink vom HDE durchaus mögliche Vorteile: „Die Infrastruktur in der Logistik und eine entsprechende Fahrzeugflotte sind in der Regel mit hohen Kosten verbunden – wenn man die Nutzung aber auf 24 Stunden ausdehnen kann, könnte sich das positiv auswirken.“ Geht es nach ihm, sollte die Umsetzung der Nachtlogistik schnell passieren: „Die Städte sind jetzt schon sehr voll. Zwar kommt man noch ganz gut von A nach B, aber genau diese Situation sollte man nutzen, um jetzt schon die nötigen Schritte umzusetzen“, fordert er. Und das „je schneller, desto besser. Für mich steht eine Umsetzung der Nachtlogistik noch im Jahr 2020 nicht in den Sternen; ich halte sie vielmehr für eine realistische Zielgröße.“